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Medizin


SARS-CoV-2: Experten streiten über


Herdenimmunität als Strategie

Donnerstag, 15. Oktober 2020



Boston/London – Über das richtige Vorgehen angesichts einer zweiten Erkrankungswelle mit einer stark steigenden Zahl von SARS-CoV-2-Infektionen sind sich auch Experten uneins. Wenige Tage nachdem sich 3 Epidemiologen in einer „Great Barrington Deklaration“ für einen gezielten Schutz („Focused Protection“) der Bevölkerung ausgesprochen haben, bezeichnen 80 andere Wissenschaftler dies in einem „John Snow Memorandum“ als gefährlichen Irrweg.

In der letzten Woche hatten der Biostatistiker Martin Kulldorff von der Harvard University und die Epidemiologen Sunetra Gupta von der Oxford University und Jay Bhattacharya von der Stanford University von einem erneuten Lockdown abgeraten, da dieser „kurz- und langfristig verheerende Auswirkungen“ auf die öffentliche Gesundheit habe.

Die Folgen seien niedrigere Impfraten bei Kindern, schlechtere Verläufe bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen, weniger Krebsvorsorgeuntersuchungen und eine Verschlechterung der psychischen Verfassung der Bevölkerung. Dies werde in den kommenden Jahren zu einer erhöhten Übersterblichkeit führen. Die Forscher warnen auch vor der Benachteiligung von bestimmten Bevölkerungsgruppen wie der Arbeiterklasse und jüngeren Menschen. Schüler von der Schule fernzuhalten sei eine gravierende Ungerechtigkeit, schreiben die Forscher in ihrer Great Barrington Deklaration.

Die drei Forscher schlagen einen gezielten Schutz („Focused Protection“) der am meisten von COVID-19 bedrohten Gruppen vor. So könnten Pflegeheime Personal mit erworbener Immunität einsetzen und häufige PCR-Tests bei anderen Mitarbeitern und allen Besuchern durchführen. Der Personalwechsel sollte minimiert werden. Menschen im Ruhestand, die zu Hause wohnen, sollten sich Lebensmittel und andere wichtige Dinge nach Hause liefern lassen und Familienmitglieder eher draußen als drinnen treffen, um das Ansteckungsrisiko gering zu halten.

Personen, die nicht schutzbedürftig sind, sollten sofort wieder ein normales Leben führen dürfen, aber einfache Hygienemaßnahmen wie Händewaschen beachten. Ein Mund-Nasen-Schutz wird nicht erwähnt. Das Ziel sei das Erreichen einer Herdenimmunität, die das Infektionsrisiko für alle senke – auch für die gefährdeten Personengruppen.

Diese Deklaration, die bis zum 15. Oktober von etwa einer halben Million Menschen unterzeichnet wurde (darunter 26.000 Ärzte und 9.750 Public Health-Forscher), ist bei anderen Wissenschaftlern auf Kritik gestoßen. Mehrere britische Experten betrachteten das Konzept gegenüber dem Science Media Center als „ethisch, logistisch und wissenschaftlich fehlerhaft“ oder sogar als reines „Wunschdenken“. Die Infectious Diseases Society of America bezeichnete das Konzept in einer Stellungnahme als „unangemessen, verantwortungslos und wenig sachkunde.







Ein gefährlicher Irrweg


Jetzt  haben 80 Forscher im einem John Snow Memorandum – benannt nach dem Arzt, der 1854 erkannte, dass sich die Cholera in London über das Trinkwasser verbreitet – eine Gegenposition bezogen. Eine Pandemie-Management-Strategie, die auf eine Herden­immunität setzt, ist nach Ansicht der Gruppe um Deepti Gurdasani vom der Queen Mary University of London, ein gefährlicher Irrweg, der nicht durch wissenschaftliche Erkenntnisse gestützt sei.

Eine unkontrollierte Übertragung unter jüngeren Menschen würde zu erheblichen Gesundheitsschäden und zum Tod vieler Menschen führen, schreiben die Autoren, da es nicht möglich sei, die Epidemie auf bestimmte Teile der Gesellschaft zu beschränken. Abgesehen davon, dass es höchst unethisch sei, große Teile der Bevölkerung zu isolieren, sei eine Grenzziehung nicht möglich, da auch junge Menschen an COVID-19 erkranken können. Die Forscher weisen auf die derzeit diskutierte Gefahr von persistierenden Erkrankungen („long COVID“) hin, die die Gesundheit junger Menschen über viele Jahre beeinträchtigen könnte.

Unklar sei zudem, wie lang eine Immunität anhalte. Das Konzept der Herdenimmunität basiere auf einem lebenslangen Immunschutz. Wenn nach einiger Zeit eine erneute Infektion möglich sei, könnte es zu einer endemischen Ausbreitung des Virus kommen mit einer dauerhaften Gefahr für die gefährdeten Bevölkerungsgruppen.

Der Verzicht auf Restriktionen werde absehbar zu einem Anstieg der Erkrankungen führen, der die Kapazitäten der Gesundheitssysteme schnell überfordern könnte. Notwendig sei jetzt ein entschlossenes und rasches Handeln. Wirksame Maßnahmen zur Unterdrückung und Kontrolle der Übertragung müssten umfassend umgesetzt werden, und sie müssten durch finanzielle und soziale Programme unterstützt werden, um die Auswirkungen auf die Gesellschaft zu minimieren.

Kurzfristig seien vermutlich weitere Einschränkungen erforderlich, um die Infektionszahlen zu reduzieren und einen erneuten Lockdown zu vermeiden. Das Ziel müsse sein, die Neuinfektionen so weit zu begrenzen, dass Ausbrüche durch Kontaktuntersuchungen unter Kontrolle gebracht werden können.

Der Schutz der Volkswirtschaften sei untrennbar mit der Kontrolle von COVID-19 verbunden, heißt es in dem Memorandum, das auch im Lancet (2020; DOI: 10.1016/S0140-6736(20)32153-X) veröffentlicht wurde. Die meisten Unterzeichner kommen aus dem angelsächsischen Raum. Aus Deutschland sind Prof. Reinhard Busse von der Technischen Universität Berlin und Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation dabei. © rme/aerzteblatt.de







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WHO warnt vor Konzept der Herdenimmunität

Dienstag, 13. Oktober 2020

WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus /dpa

Genf – Die Welt­gesund­heits­organi­sation (WHO) hat davor gewarnt, bei der Bekämpfung der Coronapandemie auf eine Strategie der „Herdenimmunisierung“ zu setzen.

Eine un­kontrollierte Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 zuzulassen, damit sich die Men­schen massenweise ansteckten, sei „unethisch“, sagte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghe­breyesus bei einer virtuellen Pressekonferenz. Herdenimmunität müsse durch Im­pfungen erreicht werden.

„Herdenimmunität wird erreicht, indem man die Bevölkerung vor einem Virus schützt und nicht, indem man sie ihm aussetzt“, betonte Tedros. Es sei „wissenschaftlich und ethisch problematisch“, darauf zu setzen, dass es auf natürliche Weise zu einer Herdenimmunisie­rung komme.

„Niemals“ in der Geschichte des Gesundheitswesens sei es vorgekommen, dass eine sol­che Strategie gegen einen Krankheitsausbruch oder eine Pandemie eingesetzt worden sei. Tedros unterstrich, dass es nach wie vor zu wenige Informationen über das Coronavi­rus gebe.

So sei noch immer unklar, wie lange ein ehemaliger Coronapatient Antikörper gegen den Erreger SARS-CoV-2 besitze. Der WHO-Chef verwies auf Fälle, in denen Menschen sich offenbar ein zweites Mal mit dem Coronavirus ansteckten. Es sei „keine Option“, ein „gefährliches Virus, das wir nicht vollständig verstehen, frei herumlaufen zu lassen“.

Der WHO-Chef betonte weiter, dass sich Schätzungen zufolge in den meisten Staaten bislang nur etwa zehn Prozent der Bevölkerung mit dem Coronavirus infiziert hat. „Die große Mehrheit der Menschen in den meisten Ländern ist immer noch empfänglich für das Virus“, sagte Tedros. Eine unkontrollierte Verbreitung bedeute deshalb, „unnötige Infektionen, Leiden und Tod zuzulassen“. © afp/dpa/aerzteblatt.de